Wie kann eine soziale Technologie der Zugehörigkeit (nach Isabelle Stengers) ortsunabhängig im Medium der Virtual Reality (VR) entwickelt werden?
Diese Fragestellung hat besondere Auswirkungen auf die soziokulturelle Ebene der Projektrealisierung. Unter Berücksichtigung performativer Aktion und virtueller Begegnung wurde das Projekt durch lokale Workshops und Hackathons IRL realisiert sowie von einem kleinem Forum und online Kommunikation der medienkünstlerischen VR-Forschung flankiert werden. Denn gerade die Aktivierung und Einbindung von Bürger*innen, Laien und Studierenden online wie offline bereits im Realisierungsprozess fördert und fordert ein Neudenken von digital-gesellschaftlichen und ästhetischen Mensch-Maschine-Relationen.
VR-Medientechnologie ist ein anti-optischer Apparat, weil sie grundlegend unsere Eigenbewegung herausfordert und synästhetische Fähigkeit fördert. In VIRTUAL CHOIR schafft der „Chor“ (gr. χορός, khoros = Tanz) aus menschlichen und nicht-menschlichen (technischen) Akteuren durch bewegte Körper und performante Codes eine inklusive, multisensorische Klanglandschaft.
Insbesondere durch die stärkere Einbeziehung der körperlichen Selbstbewegung kann eine immersive “Ergriffenheits-Beziehung” zwischen uns und der VR-Umgebung entstehen. VIRTUAL CHOIR unterstützt die Verkörperungsdimensionen der VR-Technologie durch den Einsatz einer Kinect-Kamera. Die Raumkoordinaten der Gliedmaßen, die sich in der Bewegung verändern, werden von der Kinect-Kamera erfasst und über OSC in Ton und Grafik in die VR-Umgebung übersetzt. Durch die Erfassung der gyroskopischen Körperdaten ist eine virtuelle Fortbewegung auch ohne Controller in der VR-Umgebung möglich.
Aus früheren VR-Projekten wissen wir, dass für die Schaffung eines umfassenden Raumgefühls weder der harte Realismus der meisten 3D-Computergrafiken noch die lebendige, surreale Bildqualität erforderlich sind. Stattdessen bietet VIRTUAL CHOIR eine visuelle Ästhetik, die abstrakt, durchscheinend ist und aus fließenden Partikeln besteht. Diese Art der Darstellung – wie auch die den Körper durchdringende Navigation durch den Raum – dient dazu, ein verkörpertes Leben zu „evozieren“, anstatt es zu illustrieren und zu simulieren. In VIRTUAL CHOIR geht es darum, ob die Spieler*innen, die sich als Poin-Cloud Avatare repräsentiert in der virtuellen Umgebung sehen, ihren Augen und Interaktionen mit der Welt vertrauen; Vertrauen in ihre eigenen Interaktionen und Erfahrungen mit Welt haben.
Wir haben fünf Landschaftszonen entwickelt, die innerhalb einer Kugel angeordnet sind. Während man in der Feldszene und der Wüstenszene die Klänge durch Bewegung des Körpers erzeugen und modulieren kann, erzeugt man in der Waldszene mit der eigenen Stimme eine Klangskulptur, die gespeichert wird und von nachfolgenden Spielern gehört werden kann – so soll ein Wald der Stimmen entstehen. In der Seeszene driftet man durch tiefe Bässe hinab in eine verborgene Szene
in dem der Code, der die zugrunde liegende Architektur beschreibt, sich offenbart. Durch die Kraft der eigenen Stimme „explodiert“ die Szene und die Reise durch die VR-Umgebung ist abgeschlossen. Die VR-Umgebung wirkt übersichtlich, ist aber sehr komplex, da es in jeder Zone unterschiedliche und komplexe Funktionen gibt, die auf die Spieler reagieren und entdeckt werden müssen.
Das VR-Projekt wurde unter der künstlerischen Projektleitung von Katharina Groß vom neue raeume; Kollektiv realisiert und von Teilnehmern thematischer Hackathons und Workshops, initiiert von der Trans-Media-Akademie Hellerau e.V., funktional und inhaltlich erweitert.
Next feature? Eine translokale Version!
Da wir mit dem Projekt Teil des EU-Projektes bodynet – khoros sind, widmen wir uns im nächsten Jahr der Aufgabe, eine Multi-Player-Erfahrung zu bauen. Mit unseren Partner Reverso aus Spanien und K.Dance in Frankreich können wir dann gemeinsam in VIRTUAL CHOIR tanzen und singen über hunderte Kilometer entfernt hinweg.
Medienphilosophischer Ansatz
Ästhetische Dimension
Durch VR-Medientechnologie wollten wir eine virtuelle Landschaftsform kreieren, die Emotionsformen nicht manipuliert. Vielmehr stellt VR-Medientechnologie eine Methode für ganzheitliche Erfahrungen zwischen uns und unserer sozio-technologischen Situation dar. Unsere experimentelle Praxis mit den Verkörperungsdimensionen von VR zielte auf die propriozeptiven und synästhetischen Fähigkeiten des Menschen ab: Der entstehende Ermöglichungsraum mit VR soll das Gefühl des “In-der-Welt-Seins” katalysieren und somit für die Selbst- und Fremdwahrnehmung sensibilisieren. Mit dem veränderten Blick auf Selbst und Welt sollen Akteur*innen ihre eigene gewohnheitsmäßige Wahrnehmung und Annahmen über das Sein in der (digitalen) Welt in Frage stellen. Ziel ist es, die Erfahrung, ein lebendiger Körper im Raum zu sein, zu stärken und leibliche wie technische Potenziale zu entfalten. Daher liegt die Betonung auf der Bedeutung von virtueller wie leiblicher Bewegung im Kontrast zur starren Identität.
Ethische Dimension
Anstatt Medientechnologien nur als Werkzeug zur Erreichung eines Ziels zu betrachten, begreifen wir diese als eine Existenzweise. Daher kennt eine soziale Technologie der Zugehörigkeit keine programmatischen Zuweisung wie Master oder Slave und hat keine (Be-)Nutzer*innen. Stattdessen performen Akteur*innen, die durch ihre individuellen (E)Motionen mit Medientechnologien ko-existieren und ko-evolvieren. Wir wollen eine mediale Gebrauchsweise entwickeln, mit der gemeinsam getragene und abgestimmte Verantwortung ge- und verteilt ist. Die Anerkennung und Würdigung von eigener wie fremder (technischer) Agency (Wirkung unseres Handelns) zielt auf die Bildung eines Ethos des Sorge-Tragens für unser sozio-technologisches Kollektiv.
Politische Dimension
Die Gestaltungsmöglichkeiten implizieren die Definition von Räumen, die Setzung von Machtstrukturen und evozieren damit politische Antworten, bspw. im Modellieren ganzer Navigationsstrukturen. Im Gegensatz zu klassischen Computerspiel-Szenarien, in denen der Aufforderungscharakter dem Computerspielenden vertraute Interaktionsmuster abverlangt, motivieren unsere VR-Umgebungen durch ihren offenen Charakter einerseits zum spielerischen Entdecken und fokussieren andererseits die Akteur*innen auf eine Achtsamkeitspraxis. Insofern wird das Interface nicht als Kontrollinstanz verstanden, sondern als ein diplomatischer Aushandlungsort.